Die Chance der grünen Wiese

Die Chance der grünen Wiese

März 2022

Marco Solenthaler

, M.Sc. FHO Wirtschaftsinformatik

«Bei Digitalisierungsprojekten in der öffentlichen Verwaltung empfiehlt es sich, Prozesse End-to-End durchzudenken und die Ist-Situation ergebnisoffen und kritisch zu hinterfragen. Dabei sollten der Nutzen und die Bedürfnisse der Stakeholder in den Fokus rücken.»

Heute sind oftmals Digitalisierungsprojekte in der öffentlichen Verwaltung technologiegetrieben, obwohl Nutzen und Bedürfnisse der Menschen stärker im Zentrum des Handels und folglich im Vordergrund solcher Vorhaben stehen könnten. Es lohnt sich, Prozesse von der «grünen Wiese» aus zu analysieren.

 

Im vorliegenden Artikel werden einige bei  Digitalisierungsprojekten in der öffentlichen Verwaltung zu berücksichtigende Faktoren – unterteilt nach einer externen und internen Sicht – aufgezeigt. Dabei treffen zwei Akteursgruppen mit unterschiedlichen  Interessen und Erwartungshaltungen aufeinander: Auf Seiten der Bürgerinnen  und Bürger und Unternehmen (externe Sicht) stehen unter anderem Bedienerfreundlichkeit und Einfachheit im Zentrum, während  auf Verwaltungsseite (interne Sicht) die Verwaltungslogik und somit die strukturierte Unterstützung für die auszuführenden Arbeiten durch die Informationstechnik entscheidend ist.

 

Externe Sicht

Die externe Sicht der Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen – als Endkunden von Verwaltungsleistungen – muss im Sinne einer höheren Serviceorientierung stärker in das Zentrum des Handelns gerückt werden. Dies bedeutet, dass die aktuellen Bedürfnisse und der potenzielle Mehrwert der unterschiedlichen Stakeholder verstanden werden müssen, um die Akzeptanz für digitale Prozesse und damit verbunden eine positivere Wahrnehmung derer zu erzielen. Dabei  bedarf es einer initialen Klärung, welche Erwartungshaltung die Endkundinnen und -kunden überhaupt haben. Dies können unter anderem Zeitgewinn im Sinne von weniger Aufwand, zeitliche Unabhängigkeit in Form von jederzeit verfügbaren und nutzbaren Services, Einfachheit und erhöhte Bedienerfreundlichkeit hinsichtlich Nutzung von Anwendungen sein.

 

Geht man gar einen Schritt weiter, werden  die Endkundinnen  und Endkunden nicht nur besser abgeholt, sondern gleich in das Vorhaben eingebunden. Sprich, wo ein direkter Bezug zur Kundschaft besteht, könnten auch deren Erwartungshaltung und Bedürfnisse früher abgeholt werden. Optimalerweise werden  auch zukünftige Bedürfnisse und ändernde Erwartungshaltungen regelmässig miteinbezogen. Frühzeitige und schnelle  Feedbacks können beispielsweise mit Prototypen und iterativen Feedbackschleifen eingeholt werden. So können eine höhere Akzeptanz und ein erhöhter Nutzen bei gleichzeitig tieferen Kosten erreicht werden. Das Einholen von kontinuierlichen Feedbacks kann auch ausserhalb von Softwareprojekten angewandt werden.

 

Bei der Serviceorientierung spielt auch die End-to-End-Betrachtung von Use Cases (Geschäftsfällen) eine wesentliche Rolle. Use Cases könnten über die gesamte Prozessabwicklung hinweg analysiert und Lösungen somit vom Auslöser bis zum Resultat (zum Beispiel eine Verfügung) erarbeitet werden. Der direkte Kontakt zwischen Bürgerinnen und Bürgern/ Unternehmen und der Verwaltung kann reduziert, bestenfalls gar auf den Auslöser/Trigger (Startpunkt) und das Resultat (Endergebnis) minimiert werden.

 

Interne Sicht

Die Klärung der Erwartungshaltung und des Mehrwerts ist auch intern – aus Sicht der Verwaltungsangestellten – entscheidend. Trotz wandelnder Berufswelt und ändernder Tätigkeiten wird der Personalentwicklung teils nur periphere Beachtung geschenkt.

 

Generell werden repetitive Tätigkeiten sowie Schalter-Dienstleistungen zwar zurückgehen, womöglich aber aufgrund der Service-Public-Vorgaben nie komplett durch elektronische Dienstleistungen substituiert werden können.

 

Diesbezüglich bestehen unterschiedliche Ansatzpunkte, um Bürgerinnen und Bürger von den elektronischen Dienstleistungen zu überzeugen. So kann die digitale Dienstleistung (zum Beispiel die Bestellung einer Meldebescheinigung) günstiger und attraktiver gemacht werden oder aber das herkömmliche Angebot wird erschwert. So können beispielsweise Gesuche End-to-End digital erfasst, eingereicht, bearbeitet und Verfügungen elektronisch ausgestellt werden. Parallel dazu wird die analoge Gesuchstellung wie folgt angeboten: Die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller müssen zum Beispiel in der Gemeindekanzlei physisch vorbeigehen und die Angaben für ein Gesuch selbstständig manuell vor Ort eintippen. Damit werden Verwaltungsangestellte von der herkömmlichen Datenerfassung entlastet, was einer Auslagerung der manuellen Tätigkeit nahekommt. Als positiver Nebeneffekt kann die Gemeinde einen Vor-Ort-Support bieten. Damit wird der physische Weg zwar weiterhin gewährleistet, die Erfassung wird aber umständlicher resp. zeitaufwändiger. Ziel soll es damit sein, dass der Anteil auf dem physischen  Weg aufgrund des grösseren Aufwandes kontinuierlich abnimmt. Dies führt bei den Endkundinnen und Endkunden zwingend zu einer verstärkten Nutzung digitaler Leistungen und zum Aufbrechen von Gewohnheiten. Je mehr Endkundinnen und Endkunden digitale Angebote nutzen, desto spannender und lukrativer wird es für öffentliche Verwaltungen und deren IT-Dienstleister, die Digitalisierung voranzutreiben und elektronische Services anzubieten.

 

Tätigkeitsverschiebungen betrachten

Nebst der bedeutendsten  Betrachtungsweise – der prozessualen  Sicht – sollte auch die organisatorische und personelle Sicht berücksichtigt werden. Insbesondere aufgrund von wegfallenden wiederkehrenden und manuellen  Aufgaben finden Tätigkeitsverschiebungen statt: Es werden immer weniger Sachbearbeitende, dafür umso mehr Angestellte in den Bereichen Change-, Prozess- und Projektmanagement beansprucht. Die Entwicklung der Organisation (Rollen und Funktionen) sowie Zuordnung von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen (AKV) muss kritisch reflektiert und allenfalls neu gedacht werden. Austretende Angestellte sollten nicht automatisch «eins zu eins» ersetzt werden. Es sollte vielmehr ein Soll-Ist-Vergleich von Rollen und Tätigkeitsgebieten angestrebt werden. Zudem bedarf es aufgrund der wandelnden Berufswelt zusätzlicher Unterstützung  in Personalentwicklungsmassnahmen im Rahmen von Aus- und Weiterbildungen.

 

Denkbar ist auch, dass in kantonalen Verwaltungen oder in grösseren Gemeindeverwaltungen neue Rollen wie die der Chief Digital Officers, Digital Engineers oder Data Scientists geschaffen  werden. Dies setzt voraus, dass im Vorfeld der Nutzen solcher erkannt und die AKV definiert und beschrieben werden. Es ist erkennbar, dass heute tendenziell eher Rollen ausgeschrieben werden, die in einem Teilgebiet eine grosse Expertise aufweisen, jedoch  fehlt diesen Fachkräften vielfach der übergreifende, horizontale Blick über die Verwaltung sowie das Know-how  und die Erfahrung im Projektmanagement.

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