Als vor rund 30 Jahren der damalige Präsident der Tschechischen Republik, Vaclav Havel, die Schweiz besuchte, hielt Friedrich Dürrenmatt eine viel beachtete und viel kritisierte Rede. Darin bezeichnete er die Schweiz als ein Gefängnis. In diesem Gefängnis sei nicht klar, wer eigentlich die unfreien Gefangenen und wer die freien Wächter seien. Denn: Die Wärter machten sich selbst zu Gefangenen, die Schweizer würden freiwillig als Gefangene leben.
Nun gehören bekanntlich nur verurteilte Gesetzesbrecher ins Gefängnis. Zum Glück gehören nur wenige Schweizer und Schweizerinnen zu dieser Gruppe. Trotzdem: Um die Bewohner und Bewohnerinnen unseres Landes zieht sich ein engmaschiges Netz von Regelungen zusammen, welches ihre persönlichen Freiheiten einschränkt, sie potenziell kriminalisiert und zudem ihr frei verfügbares Einkommen stagnieren oder gar schrumpfen lässt. Nachdem der Staat seine Kernaufgaben weitgehend geregelt hat, greift er weiter aus und regelt nach dem Nötigen nun auch das für manche Wünschbare. Dabei zielt er auf die Lebensweisen und Lebensgewohnheiten der Einzelnen. Weil aber wir alle den Staat bilden, zielen wir damit selbst auf unsere Lebensweisen und -gewohnheiten – und dies in aller Freiheit.
Dürrenmatt I: «Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit.»
Diese Regelungswut erfasst alle Lebenslagen. Ob wir ein Haus bauen oder umbauen, ein Geschäft eröffnen oder einkaufen gehen, ob wir fernsehen oder Auto fahren, ob wir gesund sind oder krank – staatliche Bestimmungen setzen unserem individuellen Tun immer engere Grenzen. Dabei zeichnet sich eine unerfreuliche Tendenz ab: Selbst kleinste Details werden geregelt. So wird etwa festgelegt, welchen Radien Bananen, Rüben und Gurken genügen müssen oder an welchen Tagen wir Masken zu tragen haben.
Das Fehlverhalten einzelner führt zur Bestrafung aller: Es gibt im Strassenverkehr einige Risikogruppen, wie die übermütigen Jugendlichen, die Alkoholsünder und die Charakterlosen. Doch durch immer mehr allgemeingültige Vorschriften werden auch die Freiheiten der korrekten und anständigen Fahrerinnen und Fahrer eingeschränkt. Die neuen Regeln treffen zum Verdruss der Regulierten aber nicht nur die eigentlichen Missetäter.
Einzelne verteidigen ihre Pfründe: Für alle sichtbar geschieht dies im ordentlichen Gesetzgebungsprozess. Es gibt aber auch weniger erkennbare Wege. Paradebeispiele liefern Berufsverbände, die zusammen mit öffentlichen Instanzen Vorschriften erlassen, bspw. für die Ausbildung, die in der Folge für Berufseinsteiger zu Eintrittsbarrieren werden. Eine moderne Form der mittelalterlichen Zunftordnung.
Einzelne setzen ihre Weltanschauung durch: Das Gebot «Du sollst nicht…» scheint zunehmend zu einer Leitlinie des politischen Gestaltens zu werden, nach dem Motto: Was mir nicht gefällt, soll für alle verboten sein.
Es wird über das Ziel hinausgeschossen: Im letzten Jahrzehnt ist eine Reihe gravierender Fälle von schuldhaftem Verhalten von Managern aufgetreten. In der Folge sind auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene Heerscharen daran gegangen, unter verschiedenen Titeln, besonders beliebt ist «Corporate Governance», zusätzliche, allgemein gültige Regelungen zu erlassen.
Auch die Jüngsten sind im Visier: Es gibt kaum eine Schulbehörde, die nicht ohne Unterlass am Reformieren ist, wobei häufig die aktuelle Reform vor Abschluss der vorangehenden beginnt.
Betroffen ist auch die Wirtschaft: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein neuer Vorschlag vorgebracht wird, was die Wirtschaft neu oder anders zu lassen hat – Marktsituation hin oder her. Dramatisch wird dies, wenn durch neue Regeln die Weiterentwicklung bestehender oder gar die Schaffung neuer produktiver Wirtschaftssektoren gehemmt oder verunmöglicht wird.
Besonders betroffen sind KMU: Ihr Aufwand für administrative Arbeiten hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Anstatt als Unternehmer etwas Gewinnbringendes zu unternehmen, verbringen sie und ihre Mitarbeitenden einen wachsenden Teil ihrer Zeit mit dem Umsetzen komplizierter Vorschriften, dem Ausfüllen von Formularen, dem Erstellen von Statistiken und Tabellen, dem Einholen von Bewilligungen oder dem Sammeln von Belegen.
Und die Freiheit der Meinungsäusserung? Zu den wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung hatte die Freiheit der Meinungsäusserung gehört. Einer ihrer Schlüsselsätze hiess: «Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mit meinem Leben dafür kämpfen, dass Sie diese äussern dürfen» (Voltaire). Wie halten wir es heute damit?
Dürrenmatt II: «Die Gefängnisverwaltung, die alles gesetzlich zu regeln versucht, behauptet, das Gefängnis befinde sich in keiner Krise, die Gefangenen seien frei, insofern sie echte, gefängnisverwaltungstreue Gefangene seien, während viele Gefangene der Meinung sind, das Gefängnis befinde sich in einer Krise, weil die Gefangenen nicht frei seien, sondern Gefangene.»
Gefangene tragen keine Eigenverantwortung. Wenn wir immer mehr Aufgaben und Pflichten an den Staat delegieren, interessieren uns diese als Privatpersonen nicht mehr. Eine hohe Regelungsdichte und unverständliche Eingriffe in unseren Alltag sind deshalb kontraproduktiv. Das Umsetzen und Befolgen der vielen Regelungen sind mit hohem Aufwand verbunden. Dies belastet die Finanzen jener Unternehmen, die aufgrund der Markt- und Konkurrenzsituation ihrer Branchen ohnehin schon unter Druck stehen. Rund die Hälfte des Jahres arbeiten Herr und Frau Schweizer heute für ihre Abgaben an den Staat und seine Institutionen. Noch länger arbeiten wir alle für die Umverteilungstöpfe, für die Staats- und Sozialausgaben. Selbst dies reicht aber nicht, um alle öffentlich verordneten Aktivitäten zu bezahlen, und so verschuldet sich der Staat mehr und mehr und überlässt es damit späteren Generationen, die heutigen Rechnungen zu bezahlen.
Noch sind die Schweizer freiwillige und willige Gefangene. Noch bemühen wir uns um eine fast übertriebene Political Correctness. Kommt es zur Krise im Gefängnis? Zur Gefängnisrevolte? Kann man den Einzelnen einbinden, indem man ihn einsperrt? Kaum.
Dürrenmatt III: «Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich.»