Vor nicht allzu ferner Zeit nutzten Menschen fast ausschliesslich Dinge, die sie in der Natur fanden, die sie selbst herstellten oder deren Herstellung sie aus eigener Anschauung kannten. Man baute sich sein eigenes Haus, holte Wasser am Brunnen, dessen Leitung ab und zu repariert werden musste, man hatte den Wagner als Nachbarn in der Strasse, der die Wagen und Räder baute, der Schmied beschlug die Reifen, der Hufschmied die Pferde usw. Jeder konnte dabei zusehen. Das war die «gute alte Zeit». Die Zeit vor rund zweihundert Jahren, bis zum Beginn der Industrialisierung.
In dieser Zeit wünschten sich die Menschen so allerlei: Erleichterung beim Kochen, beim Waschen, beim Personen- und Gütertransport. Und so wurden Dinge entwickelt wie die Waschmaschine, der Gas- und Elektroherd, das Auto und die Eisenbahn. Sogar der Traum vom Fliegen wurde wahr. Auch das Rechnen fiel dem Menschen nicht immer leicht. Es entstanden Maschinen dafür, später auch Maschinen für das Speichern von Zahlen – die Geburtsstunde der Computer.
Alle diese Hilfsmittel nutzen die Menschen heute mit viel Vertrauen, auch wenn sie sie zumeist nicht im gleichen Mass wie jene selbst gemachten Dinge «der guten alten Zeit» verstehen: Wir knipsen das Licht an – und es funktioniert. Doch wie der Strom produziert und ins Haus übertragen wird, muss man nicht wissen. Und die meisten wissen es auch nur ungefähr. Irgendwie mit Watt und Volt, mit Spannung oder so. Das ist die Neuzeit.
Die Neuzeit könnte man definieren als jene Zeit, in der man zunehmend Dinge nutzt, die man nicht versteht, denen man aber dennoch vertraut. Die Neuzeit ist die Geburtsstunde einer neuen Erscheinung in der Menschheitsgeschichte: Die Wünsche der Menschen führen zu technischen Entwicklungen, die zwar gerne genutzt, aber im Einzelnen nicht mehr verstanden werden. Gewiss gab und gibt es Widerstände gegen das Neue, gegen die Eisenbahn zum Beispiel, das Automobil oder das künstliche Licht – doch nur vorübergehend, weil eine Mehrheit sich einen über Generationen gehegten Wunsch erfüllen konnte und die Vorteile der Entwicklungen über kurz oder lang offensichtlich waren. Nun ist indessen etwas völlig Neues eingetreten: Wir nutzen im Alltag vermehrt Dinge, die wir uns gar nie gewünscht haben und deren grundlegenden Konzepte wir nicht einmal im Ansatz verstehen. Das ist das digitale Zeitalter.
Selbst in ihren Ansätzen lagen kühne Prognostiker vor etwas mehr als dreissig Jahren nicht richtig hinsichtlich der Tätigkeiten, die wir heute am PC verrichten. Auch als Elektroingenieur konnte ich mir dazumal nicht vorstellen, mehr als eine oder zwei Stunden pro Tag an einem solchen Gerät zu verbringen. Und Hand aufs Herz: Hat sich jemand gewünscht, allen Freunden und Bekannten im Internet seine Ferienfotos oder die Bilder vom jüngsten Spross bis zur eigenen Geburtstagsfeier zu zeigen? Oder die elektronische Agenda, die sich Berufsleute nie gewünscht haben, aber heute nicht mehr hergeben würden? Wohl kaum. Erst durch das Ausprobieren entdeckte die Mehrheit den Nutzen. Dies galt für das Internet ebenso wie für alle anderen digitalen Angebote, die nicht auf unserer Wunschliste standen. Und heute nutzen wir sie täglich. Was neu daran ist: Es ist die Entwicklung von Angeboten, nach denen der Markt nicht verlangt hat und die er trotzdem sehr viel schneller und umfassender aufnimmt als «handfeste» Innovationen wie die Waschmaschine oder das künstliche Licht.
Interessant ist, dass die nützlichen Gegenstände selten konkrete Dinge sind, sondern in der Regel Programme, geläufiger unter dem Begriff «App», die man nicht verstehen und schon gar nicht anfassen oder selbst reparieren kann. Und trotzdem vertrauen wir darauf, dass sie funktionieren. Wir vertrauen dem elektronischen Bankauszug und der EC-Karte mit aufgeladenem Barbetrag. Selbst wenn sie zwischendurch abstürzen.
Mit diesem Verhalten kehren wir Erwachsene in unsere Kindheit zurück: Wir lernen wieder wie die Kinder, indem wir etwas Neues in Betrieb setzen und durch Ausprobieren dessen Nutzen entdecken. Oft weniger mit dem Verstand, vorausdenkend und bewertend, als intuitiv, ausprobierend. Erst mit dem Probieren erfahren und erkennen wir die Nützlichkeit des Neuen. Die digitale Zukunft ist damit weniger bedürfnisgerecht getrieben als vielmehr angebotsgelenkt: Was angeboten wird, wird gekauft und ausprobiert.
Und was bedeutet das für Unternehmen?
Die hohe Verfügbarkeit von Informationen, von Wissen aller Art, der leichte Austausch von Bildern und Sprache, also die Kommunikation und Unterhaltung über Distanzen und zu jeder Zeit – das sind die Treiber grosser Veränderungen im individuellen und sozialen Verhalten. Gleichwohl sind Information und Kommunikation gemeinschaftsbildende Faktoren. Wo sie nicht vorhanden sind, gibt es keine lebende Gemeinschaft; und wo sie sich verändern, verändern sich die Gemeinschaften, die Familien, das Gemeinwesen, die Unternehmen. Gefestigte und anerkannte Strukturen lösen sich auf und formieren sich neu, neue Grenzen des Möglichen werden gesucht, getestet und verschoben, Zugehörigkeitsmuster verändern sich. Geschäftsmodelle und -prozesse werden globalisiert, neues Wissen entsteht durch intensive Information und Interaktion. Gegenüber früher findet diese Transformation nicht mehr in erster Linie durch persönliche Kontakte statt, sondern durch organisierte Information und Kommunikation mit technischen Hilfsmitteln. Stärker als früher werden Kunden und Lieferanten in diese Interaktion einbezogen. Wenn jedoch das Angebot die Entwicklung mehr als bisher steuert, dann gilt es, durch schnelle Innovation neue Produkte zu schaffen, die den Kunden anregen, sie auszuprobieren und ihren Nutzen zu entdecken. Dies gestaltet unsere Produkte-Märkte.
Es gehört zu einer anerkannten Merkwürdigkeit der Realität, dass ein Zusammenführen neuer «Subsysteme» in ein komplexes Gesamtsystem zu neuen, unvorhersehbaren Eigenschaften des Gesamtsystems führen kann. Beispiele dafür sind die digitalen Neobanken, die digitalen Währungen auf Basis der Blockchain-Technologie oder die neusten Entwicklungen bei der digitalen Aktienübertragung (Distributed-Ledger-Technologie). Das digitale Zeitalter erschafft solche «Subsysteme» – und damit unvorhersehbare Entwicklungen. Die daraus entstehenden Produkte kommen unaufgefordert. Und wir nutzen sie, ob herbeigewünscht oder nicht.