Schulden – Fluch oder Segen? 

Schulden – Fluch oder Segen? 

Mai 2017

Maurus Fässler

, M.A. HSG Banking & Finance

«Ob eine Schuld für gut oder schlecht befunden wird, hängt vom entsprechenden Finanzierungszweck ab.»

Beinahe jeder von uns wird im Laufe seines Lebens mit Schulden konfrontiert – sei es eine Hypothek für den Hauskauf, ein Unternehmenskredit für die Finanzierung von Projekten oder die Ausgabe von Staatsanleihen an Gläubiger. Verbindlichkeiten sind ein wichtiges Element unseres Wirtschaftssystems.

Bei der Betrachtung von Verbindlichkeiten gilt es immer auch, die Art des Schuldners zu berücksichtigen. Privatpersonen nehmen Schulden primär auf, um ihre Liquidität sicherzustellen. Mit dem geliehenen Geld stehen flüssige Mittel für die Begleichung von Verbindlichkeiten wie Zinsrückzahlungen oder Rechnungen oder für die Finanzierung neuer Vorhaben wie ein Fahrzeug- oder Hauskauf zur Verfügung. Dabei können sich private Schulden bei der Aufnahme einer Hypothek auf ein Mehrfaches des persönlichen Jahressalärs belaufen.

Ausreichend flüssige Mittel sind auch für Unternehmen und Staaten wichtig. Bei beiden kommen Kennzahlen als „Gesundheitscheck“ zum Einsatz. Eine dieser Kennzahlen ist das Verhältnis der Verbindlichkeiten zum Jahresumsatz. Während sich einige Industrieunternehmen zu 30-40% im Verhältnis zu ihrem Umsatz verschulden, weisen Grosskonzerne im Dienstleistungsbereich Werte von bis zu 130% auf. Dieser Unterschied der expliziten Verschuldung im Verhältnis zum Umsatzvolumen ist ebenfalls bei Staaten sichtbar. Obwohl im Jahr 2015 die Schweiz (46%) und Kanada (86%) deutlich unterschiedliche Staatsschuldenquoten1 aufwiesen, erhielten beide Staaten von den renommiertesten drei Ratingagenturen Beurteilung bezüglich ihrer Kreditwürdigkeit. Weil bei diesen drei einflussreichen, in New York situierten Agenturen bezüglich der Bonitätsberechnung grosse Intransparenz herrscht, wird bei der Notenvergabe oft politisches Kalkül vermutet. Spätestens seit der Griechenlandkrise ist jedoch hinsichtlich Bonität klar: Ein zu starkes Ansteigen des jährlichen Defizits und der damit verbundenen Verschuldungsquote (2009: 126%; 2013: 175%) kann schnell zur Zahlungsunfähigkeit führen.

Die Beispiele machen deutlich: Verbindlichkeiten können sich hinsichtlich Einsatzzweck und Schuldner stark unterscheiden. Allein davon lässt sich aber weder ein generelles noch typenabhängiges Niveau einer „gesunden“ Verschuldung ableiten.

Wann sind Schulden gut? Keynesianismus vs. Österreichische Schule
Die Frage nach dem Sinn von Schulden ist durch unterschiedliche Ansichten geprägt und wurde vor allem auf makroökonomischer Ebene, also auf Ebene der Nationalstaaten, kritisch diskutiert. Zu den beiden wichtigsten Strömungen dieser Debatte zählen der Keynesianismus und die Österreichische Schule der Nationalökonomie.

Die Lehre des John Maynard Keynes beruht auf der Ansicht, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage für die Beschäftigung und folglich für die Produktion verantwortlich ist. Da diese Nachfrage stark schwanken kann, muss – nach Keynes – der Staat in schlechten Zeiten die Nachfrage mit Staatsausgaben ausgleichen und damit die Beschäftigung erhalten. So darf der Staat in schlechten Zeiten Schulden aufnehmen und sie in Zeiten der Hochkonjunktur wieder zurückzahlen. Die Erhöhung der Ausgaben durch die Aufnahme von Schulden kann nach Keynes die Planungssicherheit und die Flexibilität erhöhen, weil keine Liquiditätsengpässe entstehen.

Im Gegensatz zum Keynesianismus vertritt die Österreichische Schule eine andere Lehrmeinung. Die Lehre geht vom subjektiven Grundsatz der Ökonomie aus. Der Nutzen des Wirtschaftens ist demnach die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Ludwig von Mises zeigte anhand des Nutzens von Geld, dass die Geldnachfrage von der Kaufkraft des Geldes in der Vergangenheit abhängt. Um das zu verstehen, müssen wir ein paar Jahre zurück in die Geldgeschichte: In den Anfängen wurde der Wert des Geldes durch seinen Warenwert bestimmt, d.h. durch den jeweiligen Gold- oder Silberanteil einer Münze. Dies änderte sich mit der Geldschöpfung durch Zentral- und Geschäftsbanken, die nur noch einen Teil der ausgegebenen Kredite als Reserve halten mussten. Die so kreierte Geldmenge aus dem Nichts (ex nihilo) durch das Drucken von Fiatgeld führt gemäss der Österreichischen Schule zu einem zyklischen und unkontrollierten Geldwachstum und einem verzerrten Preissystem. Nach der Österreichischen Lehre sollte die Ausgabe von Krediten nur erlaubt sein, wenn diese durch erwirtschaftetes Vermögen zu 100% gedeckt sind. Wird dieser Mechanismus ausgehebelt und werden darüber hinaus noch Zinsen auf nicht erarbeitetes Geld gezahlt, wachsen die Schulden schneller als die Wirtschaft. Irgendwann kommt es zu einem Wendepunkt, an dem die Wirtschaftsleistung nicht mehr ausreicht, um die Zinsen zu bedienen.

Dies führt unweigerlich zum Platzen der Verschuldungsblase mit einer Neuordnung des Wirtschaftssystems. Folglich sind Schulden gemäss der Österreichischen Schule nur dann gut, wenn diese bei einem Gläubiger aufgenommen werden, der den ausgegebenen Kredit bereits selbst erwirtschaftet hat und nicht den Kredit ex nihilo erschafft.

Schuldenpolitik in der Praxis
Wer die letzten Wirtschaftskrisen mit der Dotcom-Blase (2000) und der Wirtschafts- und Finanzkrise (2007/08) beobachtet hat, weiss, dass die überwiegende Mehrheit der Ökonomen in den entscheidenden Institutionen – Finanzministeramt der involvierten Nationalstaaten, Nationalbanken, Internationaler Währungsfonds, Weltbank oder führen-de Wirtschaftsuniversitäten – der Lehre Keynes folgen. Die Besetzung der entscheidenden Posten durch die Politik ist kein Zufall. Der Keynesianismus gibt Entscheidungsträgern und Politikern die Legitimation, nicht gedeckte Schulden aufzunehmen und so das Wirtschaftswachstum auf Pump zu erhöhen. Eine erfolgreiche Legislatur bemisst sich schliesslich in vielen Ländern hauptsächlich am Wohlstand.

Viele Staaten haben als Folge der Wirtschaftskrise umfassende Konjunkturpakete geschnürt und innerhalb weniger Jahre die Staatsverschuldung massiv gesteigert. Beispielsweise ist die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten von Amerika ab 2007 innerhalb von sieben Jahren von 64% (2007) auf 105% (2014) des Bruttoinlandprodukts gestiegen. Die heutige prozentuale Staatsverschuldung der USA ist vergleichbar mit derjenigen Griechenlands vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Im Gegensatz zum Mittelmeerstaat profitieren die Vereinigten Staaten von einer grösseren Währungsnachfrage, da der Dollar die weltweit bedeutendste Leitwährung ist. So ist in den USA auch knapp zehn Jahre nach der letzten Krise die gemäss Keynesianismus vorgesehene Rückzahlung der Staatsausgaben noch immer fällig. Verfolgt man zudem die einzelnen Budgetvoranschläge der Staaten, so scheint keine Kehrtwende in Sicht. Ob der Keynesianismus oder die Österreichische Schule Recht behalten, wird sich weisen. Bereits heute ist klar, dass aufgrund der Interessenlage der Politik die beiden Lehrmeinungen kaum zu einer gemeinsamen verschmelzen werden.

Fazit
Eine wesentliche Erkenntnis ist: Schulden per se müssen nicht schlecht sein. Schulden oder Verbindlichkeiten können jedem Individuum, Unternehmen und jeder Institution von grossem Nutzen sein, indem kurzfristig genügend liquide Mittel für die Finanzierung grosser Vorhaben bereitstehen. Ob eine Schuld für gut oder schlecht befunden wird, hängt vom entsprechenden Finanzierungszweck ab. Handelt es sich um eine nachhaltige Investition, die über mehrere Jahre einen nachweisbaren Mehrwert stiftet, kann die Verbindlichkeit auch wieder beglichen werden. Aber: Staaten und Privatpersonen sollten sich nicht übermässig verschulden, um den eigenen Konsum zu erhalten oder sogar zu steigern. Dem Einzelnen, der Wirtschaft und den Staaten ist mehr geholfen, wenn sie nutzenstiftende Vorhaben finanzieren. Somit ist auch zukünftig der sorgfältige Umgang mit Geld und den vorhandenen Ressourcen von grösster Wichtigkeit.

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