Ständiges Wachstum – zu viel des Guten?

Ständiges Wachstum – zu viel des Guten?

September 2018

Josef Schmid

, Dipl. Ing. Agr. ETH / Dipl. Betriebsökonom FH / MAS Coaching

«Wachstum sollte als Teil eines Kreislaufes angesehen werden.»

Unsere Vorstellung von ständigem Wachstum – einem «Immer-mehr-vom-Gleichen» – in der Gesellschaft kann ungesund sein.

Konfrontiert mit Krisen unterschiedlicher Art, kennen Firmen und Regierungen vielfach nur ein Heilmittel: das ständige Wachstum. Dieses Erfolgsgeheimnis des «Immer-mehr-vom-Gleichen» soll uns von allen Problemen befreien. Um Schulden abzubauen, um auf die Erfolgsstrasse zurückzukehren, um Arbeitslosigkeit oder Deflation zu bekämpfen: Wachstum, lautet das Zauberwort.

In der Natur, genauer bei Pflanzen, werden die Auswüchse eines ständig wachsenden Systems als Geiztriebe bezeichnet. Wächst eine Pflanze ständig, ohne die Wachstumskräfte in die Samenreife zu konzentrieren, entstehen reine Wachstumstriebe bis zu Geschwülsten. Diese Wachstumstriebe oder Geschwülste sind für die Vermehrung und Weiterentwicklung der Pflanze vielfach wertlos und können im nächsten Jahr sogar die Fruchttriebe verhindern, sodass die ganze Pflanze verkümmert. Sie wird wertlos – abgesehen von ihrer Verrottung als Basis für neuen Dünger.

In der Natur ist die Diagnose des einseitigen und ständigen Wachstums schnell und einfach zu stellen – es ist von aussen an jeder Pflanze sichtbar. In unserer Gesellschaft sind wir jedoch als Teil eines Ganzen im allgegenwärtigen Wachstum eingebunden; diese Innensicht erschwert die Diagnose. Das Credo des «Immer-mehr» ist heute weitgehend gefestigt. Ein kritisches Ausbrechen und Betrachten von aussen gilt häufig als realitätsfremd. Ist aber nicht die Verkennung der Naturgesetze realitätsfremd?

In der Natur werden reine Wachstumstriebe oder Geschwülste einer Pflanze dem Verrottungsprozess zugeführt. Durch diese Verrottung werden sie einerseits zersetzt und unterstützen damit als fruchtbare Bestandteile mit anderen Stoffen in Form von Humus das Wachstum in einem natürlichen Kreislauf. Andererseits schafft die Verrottung an der Pflanze Raum für Fruchttriebe. Dieser einfache Kreislauf von Wachstum, Fruchtbildung und Verrottung ist ein Naturgesetz. Jegliches einseitige Ausrichten oder Verharren in einer Phase dieses Kreislaufes führt zu Unfruchtbarkeit. Leben basiert auf den Naturgesetzen und bedeutet, mit diesem Kreislauf in Einklang zu sein und diesen Kreislauf zuzulassen. In der Natur folgen sich die Phasen des Wachstums, der Fruchtbildung und der Degeneration resp. des natürlichen Verrottungsprozesses. Übertragen wir den «Verrottungsprozess» in den Kreislauf von Politik oder Wirtschaft, brauchen wir einen Paradigmenwechsel. Dieser beinhaltet, den konstruktiven Verrottungsprozess als wesentlichen Teil jeden Handelns anzuerkennen und ihm nicht mit der Forderung nach Wachstum um jeden Preis zu begegnen.

Dieses Naturgesetz auf Firmen und Körperschaften angewandt bedeutet: Die Therapie gegen einseitiges Wachstum fängt mit der Situationsanalyse an.

Ein untrügliches Zeichen für die Notwendigkeit einer solchen Analyse in einem Unternehmen ist beispielsweise eine hohe Regelungsdichte. Ein weiteres Indiz sind komplexe und kaum durchschaubare Strukturen. Beide Situationen sind häufige Erscheinungsbilder in der Politik und in privaten Unternehmen. Der Paradigmenwechsel liegt nun darin, die Degeneration bewusst zu fördern, zu steuern und somit Raum und fruchtbaren Boden für erneutes Gedeihen und Fruchtbildung zu schaffen. Konkret bedeutet dies: Eine jährliche Struktur- und Aufgabenüberprüfung mit einer konsequenten Ausrichtung auf Vereinfachung und qualitative Mehrwerte kommen einem natürlichen Kreislauf sehr nahe.

Das «Immer-mehr» sollte ersetzt werden durch das «Nachhaltige», «Notwendige» und «Qualitative», das gebraucht wird, um ein vom Bewusstsein geleitetes, menschenwürdiges Leben zu führen. Zudem sollte Wachstum als Teil eines Kreislaufes angesehen werden. Wachstum ist auf die Fruchtbildung ausgerichtet, und auf Wachstum folgt ganz natürlich die Degeneration. Diese Degeneration schafft Raum für neues Wachstum und neue Fruchtbildung.

Das Ziel sollte die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten im Geschäftsleben und in der Gesellschaft im natürlichen Kreislauf sein – also ein qualitativer Wert der guten Fruchtbildung und des Erfolgs.

Die Rede ist also von Wachstum als einer zentralen Phase in einer Abfolge mit anderen Phasen in einem Kreislauf. Nur ein solches Wachstum ist gedeihlich, nachhaltig und langfristig gewinnbringend.

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