Zwischen Wahrheit und Lüge

Zwischen Wahrheit und Lüge

März 2024

Felix Lämmler

, Dipl. El. Ing. FH / EMBA

Es widerspricht zwar der Natur, aber dennoch scheint der Mensch eine besondere Vorliebe zu haben: Er bildet dauernd von allem Möglichen Durchschnitte. Aus Riesen und Zwergen macht man Durchschnittsgrössen; aus Zweizentnern Schwergewichtsboxern und Fünfzigkilo-Filmsternchen Durchschnittsgewichte. Säuglinge zwingt man statistisch zum Biertrinken – beim durchschnittlichen Bierverbrauch pro Kopf der Bevölkerung. Selbst kinderlosen Ehepaaren weist die Statistik vor dem Pillenknick 2.7 Kinder zu, und mit dem Kleinkind beginnt auch das Rechnen mit Durchschnitten. Das Kind kam als 55’236. Säugling des Jahrgangs 1965 auf die Welt, war 49.3 cm lang und 2’900 Gramm schwer – und hoffte auf ein individuelles Leben. Aber schon wurde es in Durchschnitte gepresst. In der Geburtsstatistik heisst es dann: Das durchschnittliche Gewicht und die mittlere Grösse der Neugeborenen im Jahr 1965 betrugen 3’033 Gramm beziehungsweise 51.2 cm.

Dann mögen einige Jahre relativer Ruhe folgen, höchstens, dass sich Tante Emma einmal dahin äussert, der Knirps sei im Vergleich zu Fritzli und Hansli etwas klein geraten. Doch mit dem Eintritt in die Schule beginnt es nur so von Durchschnitten zu wimmeln. Selbst ohne Kenntnis davon, wie sich ein Durchschnitt errechnet, merkt man spätestens nach dem ersten Zeugnis, dass man ein unterdurchschnittlicher Schüler ist: Die Lehrerin sagt es, die Mutter klagt es und der Vater greift heute gottlob nicht mehr zum Stock. Und dann spürt man erstmals hautnah, dass unterdurchschnittlich nicht gut genug ist. Also wird man durchschnittlich, beendet nach neun Jahren oder etwas mehr die Schule als Durchschnittlicher, worauf fast nichts anderes übrigbleibt, als zu warten, bis die durchschnittliche Lebenserwartung von 73.8 Jahren (Kohorte des Jahrganges 1965/68) erreicht ist. Und dann hat man doch einmal Glück und wird überdurchschnittliche 95 Jahre alt. 

 

Will man aus einer Reihe von Zahlen den Durchschnitt, in der Fachsprache Mittelwert genannt, errechnen, so zählt man die Zahlen zusammen und teilt diese durch deren Anzahl: Mittelwert

 

 

X1, X2 etc. sind die Einzelwerte und n die Anzahl Werte. Der Mittelwert der beliebigen Zahlen 2, 7, 6, 1 und 9 ist demzufolge die Zahl 5. 

 

Streuung 

 

Die Angabe von Mittelwerten allein genügt indessen nicht, denn Mittelwerte setzen sich aus Zahlen zusammen, die mehr oder weniger streuen. Oder anders gesagt: Die einzelnen Zahlen können weit auseinander liegen (grosse Streuung) oder nah beieinander (kleine Streuung). Die Streuung beschreibt also die Verteilung der einzelnen Zahlen rund um den Mittelwert. Auch macht es keinen Sinn, einen Mittelwert auf acht Stellen nach dem Komma zu berechnen, er wird dadurch nicht genauer. Absolut notwendig ist es jedoch, zu jedem Mittelwert die Streuung anzugeben. Die Streuung wird durch die Anwendung folgender Formel berechnet: 

 

Streuung S =

 

Beim vorherigen Zahlenbeispiel haben wir somit eine Streuung von 3.39. Im Beispiel der durchschnittlichen Körpergrösse von Neugeborenen würde man etwa schreiben: Die mittlere Grösse der Neugeborenen im Jahre 1965 betrug 51.2 cm +/- 4.6 cm (46.6-55.8 cm). Dann wüsste sofort jedermann, dass er mit 49.3 cm nicht unbedingt zur Gattung der Gartenzwerge gehört. 

 

Die Rechnung der Autowerkstätte 

 

Die Streuung zu kennen, bietet noch weitere Vorteile: Es gibt ein interessantes Gesetz der mathematischen Statistik, das besagt, dass sich die Einzelstreuungen nicht einfach addieren, sondern, dass die Summe der Streuungen gleich der Wurzel aus der Summe der Quadrate aller Einzelstreuungen ist:

 

 

Die Bedeutung dieses merkwürdigen Gesetzes soll an dem Beispiel aus dem Alltag verdeutlicht werden: Herr Schnell hat Pech. Er geriet nicht nur bei Glatteis mit seinem Auto von der Strasse ab, sondern es stand auch noch ein Baum im Weg. Das Resultat: Eine Beule am Kopf und eine am Auto. Erstere schmerzte und letztere soll nach Angabe der Autowerkstätte CHF 2’000.00 +/- 20% kosten. Die 20%, also der Betrag von CHF 400.00, stellen die Streuung «S» dar.  

 

Kostenvoranschlag für Herrn Schnell:  

 

Totalrevision CHF 2’000.00 +/- 20%; Rechnung zwischen CHF 1’600.00 und 2’400.00 

 

Wer die Sprache des Garagisten kennt, weiss, dass Herr Schnell sehr wahrscheinlich CHF 2’400.00 von seinem Konto abheben muss. Fordert er dagegen den Garagisten auf, anstelle eines Pauschalbetrages einen detaillierten Kostenvoranschlag zu machen, bspw. mit vier Positionen mit gleicher Ungenauigkeit von +/- 20% pro Position, dann sieht die Sache anders aus:  

 

Kostenvoranschlag für Herrn Schnell:  

 

Spengler 500.00 +/- 20% 

 

Maler 500.00 +/- 20% 

 

Garagist 500.00 +/- 20% 

 

Material 500.00 +/- 20% 

 

Totalrevision 2’000.00 
 

Streuung S =

 

⇒ Rechnung zwischen CHF 1’772.00 und CHF 2’223.00 

 

Der Mittelwert bleibt mit CHF 2‘000.00 gleich. Die totale Streuung beträgt jedoch jetzt CHF 223.00 und nicht CHF 400.00 wie im ersten Fall. Somit lautet die obere Grenze der Rechnung CHF 2’223.00 und nicht CHF 2’400.00. Natürlich hat dieses Gesetz erst Gültigkeit, wenn wir eine genügend grosse Anzahl Rechnungen anwenden; in einzelnen Fällen wird auch die Unterteilung in Einzelpositionen den Rechnungssteller nicht daran hindern, die 20% jedem Einzelposten zuzuschlagen, um auf den Mehrertrag von CHF 400.00 zu kommen. 

 

Anwendungen in der Praxis 

 

Mit Rücksicht auf das Additionsgesetz der Streuungen sollten also, wo immer möglich, Gesamtgrössen in einzelne Positionen unterteilt werden. So ist es bei der Ausarbeitung von Finanz-, Termin- oder Ressourcenplänen immer sinnvoll, eine möglichst detaillierte Unterteilung des Gesamtvorhabens vorzunehmen, denn dadurch wird die Gesamtabweichung vom Endziel erheblich reduziert.  

Die Anwendung von Mittelwert und Streuung ist derart stark verbreitet, dass die Aufzählung einzelner Anwendungen zu weit führen würde. Wie wichtig jedoch die Streuung ist, soll an einem Beispiel aus der Qualitätskontrolle gezeigt werden: Eine Firma bearbeitet zwei Qualitäten von Blechplatten. Bei der einen beträgt die Bruchfestigkeit 20 kg/mm2, bei der anderen 40 kg/mm2. Zwei Lieferanten A und B bieten solche Blechplatten an. Die Prüfung der jeweiligen Materialproben der Lieferanten A und B ergibt, dass die Mittelwerte beider Blechsorten exakt den Anforderungen entsprechen. Beachtet man jedoch die Streuung um den Mittelwert der offerierten Rohmaterialien, ergibt sich beim Lieferanten B eine grosse Streuung. Zur Verdeutlichung kann diese Tatsache in Form von Verteilungen dargestellt werden. Die bekannteste ist die sogenannte Normalverteilung, auch Gaußsche Verteilung genannt, die einem mathematischen Gesetz entspricht. Aus den Grafiken kann man entnehmen, dass die Bleche äusserlich gleich erscheinen, jedoch schwächer oder stärker sind. Das kann zu unliebsamen Überraschungen führen. Fabrikant A ist demzufolge zu bevorzugen. 

 

 

Die BSG-Berater sind bewandert im Planen und Entscheiden mit Operations Research; sie wissen, wie man komplexe Entscheidungen systematisch anpackt – und anhand von Alltagsproblemen verständlich erklärt. Lassen Sie sich überzeugen! 

 

 

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